Die Erinnerung zwischen den Seiten
- lara
- 6. Mai 2020
- 2 Min. Lesezeit

Es gibt ein eher unbekanntes Märchen von Hans Christian Andersen, das, als ich es gelesen habe, mir irgendwie im Gedächtnis geblieben ist. Es heißt "Das stumme Buch" und beschreibt die Beerdigung eines Mannes, der sich gewünscht hat, sein Buch mit ins Grab zu nehmen. Früher war der Mann tüchtig und gelehrt, er konnte verschiedene Sprachen sprechen und war musikalisch, aber mit der Zeit ist er immer seltsamer geworden. Ihn packten seltsame Stimmungen und er saß stundenlang über seinem Buch, zwischen dessen Seiten er die verschiedensten Blumen und Kräuter aufbewahrte.
(Ihr könnt euch das ganze Märchen hier durchlesen, das rentiert sich wirklich: https://www.andersenstories.com/de/andersen_maerchen/das_stumme_buch)
In dieser Erzählung ist jedes der Blätter und Blumen in dem Buch eine Erinnerung. Eine Erinnerung an den besten Freund von früher, mit dem der Mann schon ewig keinen Kontakt mehr hatte. Eine Erinnerung an an das Mädchen, das er einmal geliebt hat. Eine Erinnerung an lange Stunden im Wald und an seine vergossenen Tränen.
Der Mann wird begraben, sein Buch mit ihm und die Erinnerungen sind verwahrt und vergessen.
Natürlich ist dieses Märchen eine Aufforderung an uns, unsere Erinnerungen am Leben zu halten. Aber was mir an dieser Geschichte so gut gefällt, ist die Tatsache, dass Bücher Erinnerungen aufbewahren können. Und zwar auf ganz unterschiedliche Art:
Durch kleine Dinge, die wir zwischen den Seiten liegen lassen. Der Kassenzettel von Thalia, ein vergessenes Lesezeichen, ein Zettel mit einem schönen Spruch, und, und, und… zum Beispiel sind in meinem zweiten Teil von Reich der sieben Höfe noch Gänseblümchen aus Dänemark, weil sich das Buch gut zum Pressen geeignet hat.
Aber auch indem wir Eselsohren an bestimmten Stellen machen und unsere Lieblingszitate markieren, werden unsere Bücher ein kleines bisschen persönlicher. Ein kleines bisschen mehr ein Teil von uns.
Manchmal geschieht das auch aus Versehen, wie zum Beispiel bei meiner Ausgabe von Selection, die ich beim Campen in Italien dabei hatte und die jetzt einen großen Knick hat, weil ich mich draufgelegt habe.
Aber auch wenn unsere Bücher keine sichtbaren Spuren aufweisen, verknüpfen wir sie trotzdem automatisch mit bestimmten Momenten. Der Moment, als wir dieses Buch zum ersten Mal gelesen haben, wo wir das Buch gekauft haben, mit wem wir eine heftige Diskussion darüber geführt haben. Ich werde nie vergessen, dass ich den ersten Teil von Reich der sieben Höfe im Auto fertig gelesen haben, obwohl mir total schlecht geworden ist. Und ich weiß noch genau, wo ich saß, als in Black Moon eine meiner Lieblingspersonen gestorben ist…
Also, was ich sagen will, ist, dass Bücher uns nicht nur unterhalten und lehren und uns die Möglichkeit geben, unserer Welt zu entfliehen, sondern auch Momente, Orte und Erinnerungen zurückbringen können, die sonst vielleicht vergessen wären.
Comentarios